In der zweiten Oberstufe des OZ Grünau in Wittenbach stand vor kurzem eine Lektionsreihe zu Sprichwörtern und Redewendungen im Fokus. Es ging dabei nicht nur darum, Bedeutungen zu erklären oder Ausdrücke zu erkennen. Die Schülerinnen und Schüler erhielten auch den Auftrag zu einem kreativen Schreibanlass und sollten eine Geschichte zu einem selbst gewählten Sprichwort erfinden, in der dieses nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne verwendet wird.
Eine Schülerin wählte das Sprichwort „Eulen nach Athen tragen“, dessen Ursprung in der griechischen Mythologie zu finden ist. Es steht als Sinnbild für Sinnloses, da Athene, die Göttin der Weisheit, Schutzpatronin dieser Stadt ist und auch Eulen in der westlichen Welt als weise gelten. Demnach wäre das Tragen von Eulen nach Athen ein völlig sinnloses Unterfangen. Im Folgenden lesen Sie, wie die Schülerin Asmin Orak aus der Klasse S2c dieses kreative Vorhaben umgesetzt hat.
Text: Janis Moser
EULEN NACH ATHEN TRAGEN
Es war eine dieser Nächte, in der der Mond so hell scheint, dass man fast denkt, er wolle mit der Sonne konkurrieren. Sandros sass vor seinem kleinen Haus, eine Eule auf der Schulter. Ihr Blick war ruhig und irgendwie klug, so als wüsste sie etwas, was er nicht wusste.
„Wenn du reden könntest“, murmelte er, „würdest du mir vielleicht sagen, was ich mit meinem Leben anfangen soll.“ Seit Wochen fühlte er sich leer. Seine Freunde waren alle nach Athen gegangen, in die grosse Stadt, wo man Philosophie studieren, diskutieren und berühmt werden konnte. Nur er war geblieben, mit seinen Eulen und seinen Gedanken. Aber irgendwann hatte er genug. Er packte seine Sachen, nahm seine Eulen und machte sich auf den Weg nach Athen. Er wusste nicht genau warum, vielleicht hoffte er einfach, dort herauszufinden, was es wirklich heisst, weise zu sein.
Die Reise war lang, und unterwegs dachte Sandros viel nach:
Über Menschen, die reden, aber nie richtig zuhören. Über Wissen, das zwar interessant ist, aber nichts verändert. Und über sich selbst - warum er immer das Gefühl hatte, noch etwas suchen zu müssen. Als er endlich in Athen ankam, staunte er. So viele Häuser, Stimmen, Tempel - und auf fast jedem Dach sass eine Eule. Er lachte leise. „Natürlich“, sagte er, „ich bin tatsächlich der, der Eulen nach Athen trägt.“ Er sah den Leuten zu, die auf dem Marktplatz redeten. Viele taten so, als wüssten sie alles. Aber Sandros dachte, dass seine Eulen wahrscheinlich stiller und klüger waren als sie alle. Am Abend stieg er zur Akropolis hinauf. Er setzte sich auf eine Mauer und schaute auf die Stadt hinunter. Neben ihm landete eine seiner Eulen. „Vielleicht“, flüsterte er, „muss man manchmal etwas völlig Sinnloses tun, um etwas Wichtiges zu erkennen.“ Die Eule drehte den Kopf, als würde sie ihn verstehen. Da wurde Sandros plötzlich klar, dass das Sprichwort gar kein Spott war. „Eulen nach Athen tragen“ bedeutet vielleicht, man bringt etwas an einen Ort, an dem es schon genug davon gibt, aber man lernt auf dem Weg dahin etwas über sich selbst. Er hatte Eulen nach Athen getragen - ja. Aber eigentlich hatte er sich selbst dorthin gebracht. Und das war viel wertvoller. Von da an blieb er in Athen. Er redete wenig, beobachtete viel, und manchmal kamen die Philosophen zu ihm, um Rat zu holen. Man nannte ihn „den Mann der Eulen“. Und wenn jemand spöttisch sagte: „Er hat Eulen nach Athen getragen!“, dann lächelte Sandros nur, denn er wusste, dass man die Bedeutung mancher Dinge erst versteht, wenn man sie wirklich erlebt.
Text: Asmin Orak, S2c